“Malen nach Zahlen” in der Galerie Niedervolta
Es gibt wohl für RGs Werke keine passenderen Ausstellungsräume als diese hier in der Galerie Niedervolta vom Elektrizitätswerk Altdorf, denn wir Menschen sind elektrifizierte Wesen. In Sekundenschnelle müssen wir im Alltag für unser Überleben Zeichen lesen und interpretieren. Sollen wir die Zeichen wörtlich oder übertragen verstehen? Sind es bare Münzen oder Fälschungen? Überall sprühen die Funken.
Wir Zeichenleser stehen stets unter Spannung und im Strassen- und politischen Verkehr hat das Zeichenlesen lebensgefährlichen Charakter. Und noch schlimmer, wir selber werden ständig gelesen und überall schlagen Bedeutungs- und Klassifizierungsblitze in uns ein: Ich möchte nur diesen Regenschutz, diese Baskenmütze, und schon werde ich von aussen klassifiziert: er ist frankophil, er ist eitel, kokett, er hat Künstlermanieren … Doch ich will n u r ‚Regenschutz’.
- Trete ich auf die Strasse, bin ich ein Fussgänger
- Steige ich in den Zug, bin ich ein Reisender
- Steige ich aufs Schiff, bin ich ein Fahrgast
- Betrete ich die Kirche, bin ich ein Laie
- Betrete ich ein Warenhaus, bin ich ein Kauflustiger
- Betrete ich einen Laden, bin ich ein Kunde…
Den lieben langen Tag geht das so weiter. Am Abend sinken wir bedeutungsbeladen und -aufgeladen ins Bett.
Der Impuls, ständig zu deuten, ist wahrscheinlich biologisch bedingt. Was uns Menschen an Instinkt gegenüber den Tieren abgeht, machen wir durch eine grössere Deutungsbereitschaft wieder wett.
Genau hier setzt nun die Kunst RGs ein. Er schaltet für einen Moment diesen Bedeutungsstrom ab und bremst unsere voreilige Wahrnehmung. Er versucht die Schäden der Worte wieder gut zu machen. Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Struktur des Mediums selbst, auf die Buchstaben. Diese sind sein ikonisches Material. Einige liegen hier faul herum, lehnen sich lässig an die Wand und schlafen noch den gerechten lexikalischen Tiefschlaf. Sie haben etwas Kulissenartiges an sich, wie sie sich so verschachtelt an die Wand lehnen und ihre bildliche farbige Gestaltung hat etwas Räumliches, Perspektivisches an sich. Bald wird das gislersche Worttheater beginnen und die Buchstaben, diese Generatoren von Wörtern und Sätzen und Texten, werden sich neu formieren und eine eigene, eigenwillige Welt generieren. Sein Wörterbuch ENZYKLOP ist bereits vor zehn Jahren als grossangelegtes Lexikon erschienen, natürlich im Ausland. Wortopäde Gisler sagt es lapidar und unterkühlt: SPRECHZIMMER – und hängt ein N daran, ‚sprechzimmern’. Also Zeichen zimmern, feilen, verlängern, versetzen ersetzen, zusammensetzen, verunstalten. Oder er sagt es deutlich und bissig mit der Gleichung Mord – Wort, und nimmt es gleich wieder zurück, wenn das d weiterwandert und sich das A zu Amor gesellt.
EGO
Es sind nicht stramme Buchstabensoldaten, die wir hier sehen, denn sie können weglaufen und sich zu neuen Gebilden postieren. Hier das EGO, das stolze Ich, das syntaktisch wichtigste Personalpronomen. Es ist auch das sozialste grammatische Gebilde, denn es ändert seinen Standpunkt je nach der Person, die spricht. Das Pronomen ‚ich’ ist nicht etwas Egoistisches, wie man meinen könnte, es ist etwas zutiefst Soziales, weil es austauschbar ist. Ich kann ‚ich’ sagen und das Gegenüber antwortet im Gespräch auch mit ‚ich’. Ein wahrer Wechselstrom von Bedeutung. Kinder lernen dieses Hin und Her von ‚ich’ ganz spät in ihrer sprachlichen Entwicklung. Haben sie diesen Ich-Tausch kapiert, sind sie sozialisiert, fit für die Gesellschaft.
Das Werk biegt sich dort um die Ecke, das L schielt auf EGO, schaut zurück und es ergibt sich eine endlose Schleife: LEGO – Latein für ‚ich lese’. Rückwärts gelesen als Palindrom ergibt LESE den ESEL. Und ein Esel steht ja leibhaftig und sinngeladen als Skulptur vor dieser Galerie. Und Gisler geht gleich weiter und verwandelt das Wort EGOIST zu LEGOIST, zu einem Zeichenleser, der – wie wir alle – alles nur auf seine Weise liest und zurechtbiegt und alles auf seinen kleinen Horizont hinunter zerrt.
Doch LEGO meint auch das kluge Zusammensetzspiel mit den genoppten Klötzchen und ist eine Zusammensetzung vom dänischen Wort ‚Leg godt’ – nämlich, spiel gut; und gut spielen heisst gut legen und auswählen und kombinieren und ersetzen. Bei unserem Künstler sind die Bausteine Wörter, die sich von der gesetzten Welt abwenden und sich auf die Konstruktionsgesetze des Sprachbaus konzentrieren, um spöttisch und gislerisch durch die Hintertür wieder lachend auf neue, erfrischende Bedeutungsmöglichkeiten zu verweisen. Der Eintritt zum Paradies ist wieder offen; Eintritt frei, Kinder und Künstler die Hälfte.
MARS
Nun ist MARS erwacht, der berüchtigte römische Kriegsgott. Auch er wird in der Schule klassifiziert und festgelegt auf den Krieg, obwohl er auch der Gott der Früchte und der Landwirtschaft ist, sonst hätte ihn Venus wohl nicht in ihr Bett eingeladen. Er schützt nämlich auch Menschen und Felder. Doch das kümmert die Menschen nicht. Er wird jetzt als Kriegsgott festgelegt, basta.
Jedes Anschauen geht über in ein Betrachten und bewirkt Spannungen. Liest man MARS als Anagramm, entsteht ARMS, englisch für WAFFEN. Kippt oder rotiert man das M zu W, entsteht das Wort WARS, englisch für KRIEGE. Mars ist durch diesen Ballast irgendwie selber schuld, dass er auf Krieg festgelegt wird. Dazu hat das Wort selbst ein wichtiges Wort erobert und verschlungen und einverleibt, nämlich ARS, lat. die KUNST. RG ist ein Polyglot, er wechselt zwischen den Sprachen hin und her, klassischer, babylonischer Wechselstrom. Er weiss, dass Kriege und Liebe zusammengehören und dass die Kunst mit der alltäglichen Wahrnehmung auf Kriegsfuss steht.
MARS ist zugleich ein leckerer Schokoriegel. Wir erkennen den eindrücklichen Schriftzug im Logo mit den drei bestimmten Farben, deren Anordnung von Innen nach Aussen die Bestandteile des Produkts versinnbildlichen. Die gislerschen Buchstaben zeugen davon und verraten zugleich die Schichten und Bestandteile des Riegels: Schokolade aussen schwarz, dann eine Schicht Karamell braun, und zuinnerst die süsse Versuchung, die Candycrème, rot, ein gepacktes Energiebündel mit 10 x so viel Strom wie ein Apfel.
APPLE
Es gibt in dieser Welt keinen Gegenstand, der frei von Symbolik wäre. Jeder Garten erzählt vom Heimweh nach dem Paradies, und es gibt keinen Apfel, der – sobald angebissen – nicht an die verbotene Frucht im Paradies erinnerte. Eva hat es gewagt: Apfel essbar und hat sich die Kreativität gegenüber autoritären Befehlen und Bedeutungen und zugleich den Verlust es Paradieses eingehandelt. Kunst ist schon immer bestraft worden, das zeugt von ihrer Wichtigkeit in unserem Leben. Und das Drama des Apfels geht weiter, so auch die Apfelsilhouette mit dem seitlich rechts angebissenen Apfel, dem Markenzeichen der Computerfirma Apple dem byte und dem bit in der elektronischen Sprache des Rechners. Andere denken an den roten Apfelbiss des Schneewittchens und hier denken wir natürlich an Tells wagemutigen Apfelschuss. RG macht es kurz und bündig, er verwandelt den Adamsapfel kurz zu ‚Madamsapfel’.
ZAHLEN
Jedes Haus hat einen Zähler, der den Stromverbrauch notiert. Künstler sind arme Leut, reden deshalb viel von Geld. Banker sind reiche Leut, reden deshalb viel von Kunst. Bei den Werken hier auf den niedlichen Bänkchen hat jeder Buchstaben auch einen Zahlenwert eingegossen, nicht nach Alter oder nach Reife, sondern nach der Häufigkeit des Vorkommens. Je häufiger, desto billiger. Wer also Jörg oder Wild oder beides zusammen heisst, ist teuer, weil das J und das W seltener vorkommen als ein E oder ein I. Auf der Anlagebank ergibt die Summe der zusammengezählten Buchstabenzahlwerte den Preis des Werks (und wird mit einem rätselhaften Faktor multipliziert), und man kann sich in Gislers Scrabble natürlich auch selber Lieblingsworte zusammenstellen.
Das sind die verbotenen Früchte dieses Künstlers. Seine Arbeiten sind federleicht. Und die Schwerkraft erklärt RG nicht voreilig mit einem erdenschweren Apfel, der vom Baum hinunterplumst; er erklärt die Schwerkraft schelmisch, riskant und ikarisch – mit einem Vogel.
Mögen seine ausgestellten Arbeiten unsere Phantasie beflügeln!
Text der Laudatio von Dr. Tarcisius Schelbert, Oktober 2011
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